ADHS und Sexualität: Wenn Nähe zur Herausforderung wird

Es ranken sich viele Mythen um ADHS und Sexualität, von Hypersexualität bis hin zu völligem Desinteresse, oder zur Jäger- und Bauerntheorie.

Als Sexualtherapeutin weiß ich, wie sensibel und komplex das Thema Sexualität ist. Wenn dann noch eine neurologische Besonderheit wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) hinzukommt, sind Paare oftmals überfordert damit. Es ranken sich viele Mythen um ADHS und Sexualität, von Hypersexualität bis hin zu völligem Desinteresse, oder zur Jäger- und Bauerntheorie. Die Wahrheit liegt, wie so oft, dazwischen und ist immer sehr individuell.

Im Folgenden geht es darum, wie sich ADHS auf Intimität und das Sexualleben auswirken kann und welche Strategien Betroffenen helfen, trotz dieser Herausforderungen erfüllende Beziehungen zu führen. Dabei stütze ich mich auf Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung und Fachliteratur, welche unten angegeben sind.

Das Zusammenspiel von Impulsivität und Verlangen

Ein zentrales Merkmal von ADHS ist die Impulsivität. Diese kann sich im sexuellen Kontext unterschiedlich äußern.

  • Risikoverhalten: Studien haben gezeigt, dass Menschen mit ADHS tendenziell zu riskanterem Sexualverhalten neigen können, was die Wichtigkeit von bewussten Entscheidungen und Schutzmaßnahmen unterstreicht.
  • Hypersexualität: Manche Betroffene erleben Phasen intensiven sexuellen Verlangens (Hypersexualität). Dies wird oft durch die Suche nach Stimulation und Dopamin, einem Neurotransmitter, der bei ADHS oft in geringerer Konzentration verfügbar ist, angetrieben.

Ich möchte aber auch ganz klar betonen, dass Impulsivität nicht gleich Promiskuität bedeutet, sondern vielmehr die Notwendigkeit, bewusste Entscheidungen im Einklang mit den eigenen Werten zu treffen.

Wenn die Gedanken auf Wanderschaft gehen: Konzentration und Präsenz

Intimität erfordert Präsenz, also die Fähigkeit, im Moment zu sein und sich auf den Partner oder die Partnerin einzulassen. Genau hier liegt für viele ADHS-Betroffene eine große Hürde.

  • Abschweifen: Konzentrationsschwierigkeiten, ein Kernsymptom von ADHS, können dazu führen, dass die Gedanken während des Geschlechtsverkehrs abschweifen. Man denkt an die Einkaufsliste, an die Arbeit oder an andere Dinge. Dies kann es schwierig machen, sich fallen zu lassen und einen Orgasmus zu erleben, was zu Frustration führen kann [2].
  • Achtsamkeit als Schlüssel: Fachpublikationen weisen darauf hin, dass Achtsamkeitsübungen (Mindfulness) eine wirksame Strategie sein können, um die Präsenz im Moment zu verbessern und die Verbindung zum eigenen Körper und dem des Partners zu stärken [3].

Achterbahn der Gefühle: Emotionsregulation und Nähe-Distanz

ADHS ist oft mit Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation verbunden. Das kann sich auch im Liebesleben bemerkbar machen, nicht nur in Alltagssituationen.

  • Schwankende Libido: Die Libido kann stark schwanken, was die Planung von Intimität in einer Partnerschaft zur Herausforderung macht. Der Partner oder die Partnerin kann sich dadurch schnell zurückgewiesen fühlen, obwohl dies nicht die Absicht ist.
  • Kommunikation ist essenziell: Eine ehrliche und offene Kommunikation über diese Schwankungen ist entscheidend. Forschung im Bereich der Paartherapie betont, wie wichtig es ist, die neurologischen Unterschiede des Partners zu verstehen, um Missverständnisse zu vermeiden [4].
  • Nähe-Distanz-Regulation: Auch die Regulierung von Nähe und Distanz kann betroffen sein. Manchmal benötigt man viel Freiraum, ein anderes Mal extreme Nähe. Hier gilt es, gemeinsam gesunde Grenzen und vor allem Signale zu etablieren [4].

Wenn Berührungen zur Herausforderung werden: Sensorische Hypersensibilität

Ein oft übersehener, aber wesentlicher Aspekt von ADHS ist die veränderte sensorische Verarbeitung von Berührungen. Viele Menschen mit ADHS erleben eine Überempfindlichkeit gegenüber Sinneseindrücken.

  • Taktile Abwehr: Für einige Betroffene fühlen sich bestimmte Berührungen (insbesondere leichte, also potentiell kitzelnde Reize) unangenehm an oder lösen sogar eine taktile Abwehr aus. Diese Überempfindlichkeit kann dazu führen, dass zu sanfte Berührungen als störend empfunden werden, während zu viel Druck oder zu intensive Nähe als einengend oder überwältigend erlebt wird [5, 6, 7].
  • Wissenschaftliche Erkenntnisse: Studien belegen, dass Erwachsene mit ADHS häufiger von sensorischer Hyper- und Hyposensitivität berichten als neurotypische Kontrollgruppen [7]. Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass die Berührungssensitivität direkt mit der Schwere der ADHS-Symptome, insbesondere der Unaufmerksamkeit, zusammenhängen kann [6].
  • Intimität neu denken: In der Sexualität bedeutet dies, dass Paare gemeinsam herausfinden müssen, welche Arten von Berührungen als angenehm empfunden werden. Eine offene Kommunikation über Präferenzen, z.B. fester Druck statt leichtem Streicheln, bestimmte Materialien bei Bettwäsche oder Kleidung, ist hierbei unerlässlich.

Der Einfluss der Behandlung: Medikamente und Therapie

ADHS-Medikamente, wie Psychostimulanzien können das Sexualleben sowohl positiv als auch negativ beeinflussen.

  • Mögliche Nebenwirkungen: Stimulanzien können bei Erwachsenen mit ADHS bestimmte sexuelle Funktionsstörungen, vor allem bei Männern, verstärken, während nicht-stimulierende Medikamente meist mildere Effekte haben. Geschlechtsspezifische Unterschiede deuten auf unterschiedliche Auswirkungen auf die sexuelle Gesundheit hin, weshalb mögliche Nebenwirkungen bei der Behandlung immer berücksichtigt werden sollten. [8].
  • Mögliche Positive Effekte: Betroffene in meiner Praxis berichten jedoch auch, dass die Medikation ihnen hilft, sich besser zu konzentrieren, weniger impulsiv zu sein und dadurch bewusstere und erfüllendere sexuelle Erlebnisse zu haben.

Es ist wichtig, diese Aspekte gemeinsam mit dem behandelnden Arzt zu besprechen, um die bestmögliche Balance zu finden. In diesem Artikel, ebenso wie in meinen Beratungen, gebe ich ausdrücklich keine Empfehlung für oder gegen eine medikamentöse Behandlung. Diese Entscheidung liegt allein beim behandelnden Arzt und den Betroffenen selbst.

Auch wenn sich manche Herausforderungen für Betroffene zunächst arbeitsintensiv oder belastend anfühlen mögen, ADHS ist keineswegs ein Hindernis für ein erfülltes Sexualleben. Es braucht lediglich ein wenig mehr Bewusstheit, Geduld und manchmal kreative Lösungsansätze, ähnlich wie in vielen anderen Bereichen partnerschaftlicher Intimität. Der Schlüssel liegt in der Akzeptanz der neurologischen Unterschiede, in offener und liebevoller Kommunikation und in der Bereitschaft, gemeinsam neue Wege zu entdecken.

Professionelle Unterstützung durch eine auf ADHS spezialisierte Sexual- oder Paartherapie kann dabei eine enorme Bereicherung sein. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie gern dabei, gemeinsam Strategien zu entwickeln, die zu Ihnen und Ihrer Beziehung passen, sodass Intimität wieder leicht, angenehm und verbindend erlebt werden kann.

Referenzen und Fachpublikationen:

[2] Sandra, K. (2018). The Adult ADHD Tool Kit: Using CBT to Develop Skills and Strategies to Improve Executive Functioning. PESI Publishing & Media.

[3] Zylowska, L., et al. (2008). Mindfulness Meditation as a Treatment for Adult ADHD: A Proof-of-Concept Study. Journal of Attention Disorders, 11(6), 737-746.

[4] Ramsay, J. R. (2010). Cognitive-behavioral therapy for adult ADHD: An integrative psychosocial and pharmacological approach. Routledge.

[5] Boehme/R., et al. (2020). Sharpened self-other distinction in attention deficit hyperactivity disorder: An fMRI study of social touch. NeuroImage: Clinical, 27, 102317.

[6] Schulz, L. (2024). Altered somatosensory processing in adult attention deficit hyperactivity disorder. European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience.

[7] K. Dionne et al. (2024). Sensory Processing in Individuals With Attention‑Deficit/Hyperactivity Disorder Compared With Control Populations: A Systematic Review and Meta‑Analysis Ergebnis: Menschen mit ADHS weisen gegenüber Vergleichsgruppen deutlich erhöhte Werte bei sensorischer Sensitivität, Vermeidung, geringerer Registrierung und sensorischem Suchen auf. 

[8] Elijah W HaleTyler J IgoeOscar R BernatTyler D CohanKatherine P Thompson: From hyper- to hypo- (2025): ADHD medications & sexual dysfunction. Sex Med: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/40192478/

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